Gemeinsames Erinnern an die Opfer des 4. März 1919
Zum Gedenken der Märzgefallenen, den Opfern des 4. März 1919 und der Schicksale der sudetendeutschen Landsleute, die aus ihrer angestammten Heimat vertrieben worden sind, legt Oberbürgermeister Gerhard Jauernig an der Gedenktafel für die Opfer von Gewaltherrschaft, Flucht und Vertreibung im Günzburger Dossenbergerhof einen Kranz nieder.
Vor 105 Jahren, am 16. Februar 1919, fanden in Deutschösterreich, der späteren „Ersten Republik“, die Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung statt. Die Deutschen aus Böhmen und Mähren, insgesamt 3,5 Millionen Menschen, wurden jedoch von den Tschechen daran gehindert, diese Wahlen auch in ihren Gebieten durchzuführen. Als dann am 4. März 1919 die gewählte Nationalversammlung zu ihrer ersten Sitzung in Wien zusammentrat, kam es an vielen Orten im deutschen Siedlungsgebiet innerhalb der Tschechoslowakei zu friedlichen Demonstrationen für das Selbstbestimmungsrecht und die Zugehörigkeit zu Deutschösterreich. Ausgangspunkt war der Zerfall der drei großen multinationalen Reiche Österreich-Ungarn, Russland und Deutschland am Ende des Ersten Weltkriegs. Auf deren früherem Territorium entstanden die sogenannten Nachfolgestaaten auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts der Völker.
Einer der Schauplätze war die Tschechoslowakische Republik, die nach Ende des Ersten Weltkriegs aus einem Teil des österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaates hervorgegangen war und zu deren Staatsgebiet nun auch die Siedlungsbereiche der Sudetendeutschen gehörten. Am 4. März 1919 demonstrierte fast die ganze sudetendeutsche Bevölkerung friedlich für ihr Selbstbestimmungsrecht.
Diese Demonstrationen waren von einem eintägigen Generalstreik der Deutschen begleitet. Die Kundgebungen wurden vom tschechischen Militär zerschlagen, wobei 54 Tote und über 100 Verletzte zu beklagen waren. 16 Tote waren es allein in Sternberg, der heutigen Partnerstadt Günzburgs. Den Opfern dieses schwarzen Tages in der deutsch-tschechischen Geschichte widmete die Stadt Günzburg den feierlichen Gedenktag.
Der kollektive Ausschluss der deutschen Bevölkerung in der Tschechoslowakei von ihrem Selbstbestimmungsrecht und das gewaltsame Vorgehen gegen die Demonstrierenden trugen maßgeblich zur Verfestigung einer gemeinsamen sudetendeutschen Identität bei und ließen Feindbilder entstehen, die vor allem während der Zeit des Nationalsozialismus instrumentalisiert wurden. Die Schrecken und das Leid, das der Zweite Weltkrieg und die anschließende Vertreibung über die Menschen in Osteuropa brachten, stellte eine schwere Hypothek für den Frieden in Europa dar. „Auch beim Blick auf heutige Konflikte, ob in der Ukraine oder im Nahen Osten, sollten wir uns dieser Lehren bewusst sein: Gewalt erzeugt Gegengewalt. So entsteht eine Spirale des Hasses, die erst einmal durchbrochen werden muss, um einen Weg zu Frieden und Versöhnung zu finden“, sagt Oberbürgermeister Gerhard Jauernig.
Gerade deshalb ist die Geschichte der Sudetendeutschen auch heute von höchster Relevanz. Sie zeigt, wie aus Leid und Zwietracht Frieden und Versöhnung werden kann. „Dafür bedurfte es politischer Entscheidungen mit Weitblick ebenso wie der Bereitschaft der Betroffenen, nach vorn zu blicken und das Verbindende zu suchen. Es ist eine der größten Errungenschaften im deutsch-tschechischen Verhältnis, dass der Schulterschluss in einem vereinten Europa dem berechtigten Gedenken an Unterdrückung, Krieg und Vertreibung, aber auch der Pflege sudetendeutscher Kultur und Tradition in keiner Weise entgegensteht. In Günzburg leben wir diesen Gedanken gemeinsam mit unserer Partnerstadt Sternberk, aus der nach dem Zweiten Weltkrieg viele Menschen in den Landkreis Günzburg gekommen sind“, hält der Günzburger Rathauschef Jauernig fest.
Allen Populisten und Nationalisten, die heute wieder ein Zurück in die Zeit von Abschottung und ethnischer Ausgrenzung fordern, muss die Geschichte der Sudetendeutschen in all ihren Wendungen als mahnendes Lehrstück entgegengehalten werden. „Setzen wir uns deshalb dafür ein, dass gerade in einer Zeit, in der manche im nationalen Egoismus die Antwort auf weltweite Krisen sehen, der Blick auf Gemeinsames und Verbindendes, auf Kooperation und Partnerschaft im Vordergrund bleibt“, schließt OB Jauernig sein Grußwort.